Gleichberechtigung ist kein Buffet, an dem man sich das Beste heraussuchen kann, schrieb Andreas Kunz in seinem Kommentar zum Bundesgerichtsurteil mit dem Kürzel 5A_568/2021 in der «SonntagsZeitung». Genau, Gleichstellung ist kein Buffet – dem stimmen wir bei der Eidgenössischen Kommission dini Mueter (EKdM) als Lobbygruppe für Mütter und Kinderbetreuerinnen zu. Und wir fordern, diese Aussage konsequent zu Ende zu denken. Es kann nicht sein, dass von Müttern unablässig auf politischer und jetzt auch auf höchster juristischer Ebene verlangt wird, in höheren Pensen erwerbstätig zu werden – gleichzeitig aber niemand bereit ist, in der Betreuung mehr Verantwortung zu übernehmen.
Das Armutsrisiko von Müttern wird nach diesem Gerichtsurteil weiterhin steigen. Die Wahrscheinlichkeit, erstmals Sozialhilfe beantragen zu müssen, ist für Frauen nach einer Scheidung bereits heute dreimal so hoch wie für ihre Ex-Partner. Jede achte Frau mit schulpflichtigen Kindern ist ein Jahr nach der Trennung von der Sozialhilfe abhängig. Weiter zeigt eine Sotomo-Umfrage, dass vier von fünf kinderlosen Frauen ihren Lebensunterhalt mit dem eigenen Lohn bestreiten – die grosse Mehrheit der Mütter ist dazu jedoch nicht in der Lage. Bei den Männern ist es jeder Zwanzigste. Dabei spielt das Alter der Kinder nur eine untergeordnete Rolle. Ein Urteil im Namen der Gleichberechtigung? Mitnichten. Das Gerichtsurteil geht an der Wirklichkeit vorbei und straft Betreuende ab.
Familienarbeit ist ein Vollzeitjob. Wer übernimmt diesen Vollzeitjob, wenn Mütter vermehrt einer Erwerbsarbeit nachgehen? 70 % der in der Schweiz geleisteten Arbeit ist unbezahlt. Laut Daten des Bundesamts für Statistik leisten Mütter in Paarhaushalten mit zwei Kindern jede Woche 23,3 Stunden, also fast drei Arbeitstage mehr unbezahlte Arbeit als Väter. Das sind 100 Stunden pro Monat, für Familienarbeit. Unbezahlt!
Können denn die Mütter diese Arbeit nicht einfach auslagern, wenn beide Elternteile Vollzeit erwerbstätig sein wollen, sollen und/oder müssen? Teilweise sicher, aber an wen? Die Strukturen in der Schweiz sind auf das Ernährermodell ausgelegt und begünstigen dieses, Gerichtsurteile hin oder her. In vielen Städten gibt es genug Kitaplätze, doch auf dem Land sind diese rar und oft schwierig zu bezahlen. Auch Tagesschulen sind nötig, damit die Eltern nicht während der Mittagspause die Kinder holen, bringen, kochen müssen. Wer kann sich schon Feierabend um 15:30 Uhr leisten?
Anders formuliert: Zwei vollzeitlich arbeitende Elternteile sind in der Schweiz heute äusserst selten, weil das fast unmöglich zu schaffen ist. Als Erinnerung: Heute sind 78 Prozent der Mütter mit Kindern unter 25 Jahren teilzeiterwerbstätig, bei den Vätern sind es gerade mal 12 Prozent. Die Erwerbsbiografie von Frauen wird in aller Regel durch die Mutterschaft unterbrochen, Teilzeiteinkommen sind oft tiefer und der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben alles andere als einfach. Gleichzeitig steigt das Einkommen der Väter in dieser Periode. Der nacheheliche Unterhalt war dafür da, dies abzufedern. Das Bundesgericht hat mit seinem neusten Urteil die Situation zu Ungunsten der Frauen weiter akzentuiert. Die Folge des Urteils ist, dass das Risiko der idealerweise gemeinsam beschlossenen Rollenaufteilung einzig durch das finanziell schwächere Elternteil getragen wird. Dasjenige, das für die Erwerbsarbeit zugunsten der Familienarbeit reduziert hat. Und das ist immer noch in den allermeisten Fällen die Frau.
Kinder betreuen ist nicht Privatsache. Die Rahmenbedingungen für Erwerbstätigkeit von Müttern in der Schweiz stimmen nicht – darüber sollten wir reden: Welche Arbeitszeiten brauchen wir? Welche Bedingungen brauchen Kitas und Tagesschulen, um Kinder gut betreuen zu können? Wie können wir Care-Arbeit so bemessen, dass die Arbeit als wertvoll angesehen wird? Wir brauchen Wertschätzung, Geld und Zeit für Care-Arbeit. Sei es zu Hause oder in der Tagesschule. Wir warten auf das erste Bundesgerichtsurteil, bei dem Sorgearbeit als Leistung ernst genommen wird und die Ansprüche entsprechend berechnet werden. Auch für Väter kann Gleichberechtigung kein Buffet sein. Das gemeinsame Betreuungs- und Zahlungsmodell, für das sich die Eltern gemeinsam geeinigt hatten, sollte auch nach der Ehe die Regel sein. Einen Zwang für das eine oder andere Modell lehnen wir indes vehement ab. Das jüngste Urteil ist in seinen Dimensionen zwar völlig unrepräsentativ. Trotzdem wurde es in der «SonntagsZeitung» als «wegweisend» bezeichnet. Zurecht: als wegweisend in seiner Ungerechtigkeit.
Anaël Jambers für die Eidgenössische Kommission dini Mueter (EKdM)