Das richtige Steuersystem – Eine Frage der Werte

Erschienen in der «Berner EVP», November 2021

Wegen der progressiven Ausgestaltung der Einkommenssteuer werden auf Bundesebene heute
Ehepaare stärker belastet als Konkubinatspaare. Diese Ungerechtigkeit wird als «Heiratsstrafe»
bezeichnet und gehört abgeschafft. Die meisten Kantone haben dies angepasst und setzen
unterschiedliche Splittingmodelle ein. Um die Steuerprogression zu brechen, gelangt für Ehepaare
im Splittingmodell ein tieferer Steuersatz zur Anwendung, als dies für unverheiratete Paare der Fall
ist.

Dieses Jahr hat der Grosse Rat des Kantons Bern die Individualbesteuerung beschlossen. Auf
Bundesebene fanden während der letzten 30 Jahre diverse Bemühungen zur Abschaffung der
Heiratsstrafe statt – bisher erfolglos. Mit der Volksinitiative zur Einführung der
Individualbesteuerung wurde jüngst ein neuer Versuch lanciert. Die Unterschriftensammlung ist in
vollem Gange und wird von Vertreterinnen und Vertretern von SP, Grünen, die Mitte, FDP, GLP und
SVP getragen.

Die Initiative wird auf der Strasse mit dem «Gleichstellungsargument» beworben. Durch die
Individualbesteuerung würden negative Erwerbsanreize für Frauen abgebaut. Das heisst, dass mehr
Frauen mit einem höheren Pensum arbeiten würden – so das Argument der Befürworterinnen und
Befürworter.

Diese Argumentation greift für mich aus zwei Gründen zu kurz: Erstens, nicht die Heiratsstrafe,
sondern die Elternschaft, drängt viele Frauen (und Männer) in ein reduziertes Pensum. Nebst den
beträchtlichen finanziellen Belastungen der externen Kinderbetreuung, nehmen sowohl das
Familien- und Haushaltsmanagement, als auch die Freuden (und Leiden) der Erziehungsarbeit viel
Zeit in Anspruch. Zweitens bevorzugt die Individualbesteuerung explizit das Zweiverdienermodell.
Meines Erachtens sollte die Politik das Steuersystem so ausgestalten, dass vom Staat kein
Familienmodell explizit bevorzugt wird. Ehepaare sollen ihr Familienmodell frei bestimmen und je
nach Situation ihren Bedürfnissen anpassen können, sei es, weil sie Eltern geworden sind, oder einer
Weiterbildung nachgehen wollen.

Die Individualbesteuerung verlangt von uns, dass wir als «Einzelpersonen» und nicht mehr als
«Familie» in eine steuerliche Beziehung zum Staat treten. Das System Individualbesteuerung
reduziert dabei jegliche Anreize zur finanziellen Solidarität zwischen Ehepartnern. Ist es konservativ
zu sagen, dass die Ehe auch eine (Wirtschafts)gemeinschaft bedeutet? Meinetwegen.
Der Gemeinschaft «Familie» bedarf es Sorge zu tragen, da darin Beziehung und Solidarität gelernt
und gelebt werden. Ob jemand die Individualbesteuerung oder ein Splittingverfahren bevorzugt,
hängt somit von der jeweiligen Wertehaltung ab. Gerade deshalb ist ein Splittingsystem, welches
Ehepaare zusammen besteuert und gleichzeitig die Heiratsstrafe abschafft, klar zu bevorzugen. Von
der EVP wünsche ich mir, dass sie sich bei der Abstimmung 2024 klar auf der Seite der Familien
positioniert.

Link: https://www.evp-be.ch/newsartikel/action/News/detail/artikel/die-neue-evp-zeitung-ist-da-28/

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